Im Zweifel für den Angeklagten

by | Sep 12, 2022 | Strafrecht

Dubio Pro Reo und das Dilemma „Aussage gegen Aussage“

in dubio pro reo

Nach dem Grundsatz “in dubio pro reo“ (im Zweifel für den Angeklagten) darf das Gericht die beschuldigte Person nicht verurteilen, wenn nach objektiver Würdigung des gesamten Beweisergebnisses nicht zu unterdrückende Zweifel an deren Schuld bestehen (vgl. Art. 10 Abs. 3 StPO).

Der Grundsatz in dubio pro reo kommt zur Anwendung, wenn die Beweislage nicht eindeutig ist, also Zweifel bestehen, ob die vorliegenden Beweise für die Feststellung einzelner rechtserheblicher Tatsachen oder für einen Schuldspruch insgesamt ausreichen oder nicht. Entsprechende Ungewissheiten wirken sich zum Nachteil des Staates aus.

Der Grundsatz kommt bei der Verteilung der Beweislast (Beweislastregel) und der Würdigung der Beweise (Beweiswürdigungsregel) zur Anwendung.

Als Beweislastregel bedeutet der Grundsatz in dubio pro reo, dass die Anklagebehörde bzw. das Gericht die Schuld der angeklagten Person zu beweisen hat und nicht diese ihre Unschuld nachweisen muss. Die Beweislastregel wird verletzt, wenn das Strafgericht eine beschuldigte Person mit der Begründung verurteilt, sie habe ihre Unschuld nicht nachgewiesen.

Dem Grundsatz in dubio pro reo kommt darüber hinaus die zentrale Bedeutung zu, dass das Gericht die beschuldigte Person freisprechen muss, wenn der Schuldbeweis misslungen ist, d.h. wenn für das Gericht nach Abschluss der Beweiswürdigung erhebliche und unüberwindbare Zweifel an der Schuld bestehen. Dieser Aspekt wird auch als Entscheidregel bezeichnet.

Hält das Gericht zwei Tatvarianten für möglich, nämlich eine günstige und eine ungünstige, bringt das Gericht damit selber zum Ausdruck, dass es von der ungünstigen Variante nicht überzeugt ist. Dies hat in Anwendung der Maxime “in dubio pro reo” als Entscheidregel zur Folge, dass es von der für den Angeschuldigten günstigen bzw. günstigeren Sachverhaltsannahme ausgehen muss.

Der Grundsatz in dubio pro reo als Beweiswürdigungsregel bedeutet folgendes: Das Strafgericht darf sich nicht nach Gutdünken und rein subjektivem Empfinden von der Schuld der angeklagten Person überzeugt erklären. Vielmehr muss die Beweiswürdigung und Sachverhaltsfeststellung gestützt auf alle vorhandenen und verwertbaren Beweise begründbar und für einen verständigen Menschen objektiv nachvollziehbar sein.

Eine Verurteilung darf nur ergehen, wenn das Strafgericht über jeden vernünftigen Zweifel hinaus überzeugt ist, dass sämtliche Strafbarkeitsvoraussetzungen in tatsächlicher Hinsicht vorliegen. Eine überwiegende Wahrscheinlichkeit reicht hierfür nicht. Auf der anderen Seite ist absolute Gewissheit angesichts der Unvollkommenheit der Erkenntnismittel und des menschlichen Urteilvermögens nicht erreichbar. Gefordert ist indessen ein sehr hoher Grad an Wahrscheinlichkeit.

Aussage gegen Aussage

Eine „Aussage gegen Aussage”Konstellation liegt vor, wenn sich der Verdacht gegen einen Beschuldigten nur auf ein einziges Beweismittel, nämlich die Aussage eines Zeugen stützt. Dieser Zeuge ist in der Regel das vermeintliche Opfer der Tat. Das Gleiche gilt, wenn mehrere Zeugenaussagen vorliegen, die jedoch aus demselben Umfeld des Zeugen stammen. Hierzu zählen insbesondere Aussagen von Freunden und Verwandten des vermeintlichen Opfers.

Bei «Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen», in welchen sich als massgebliche Beweise belastende Aussagen des mutmasslichen Opfers und bestreitende Aussagen der beschuldigten Person gegenüberstehen, müssen nicht zwingend gestützt auf den Grundsatz «in dubio pro reo» zu einem Freispruch führen; die Aussagen müssen vielmehr vom urteilenden Gericht einlässlich gewürdigt werden. Dementsprechend kann eine Verurteilung auch bei Aussage gegen Aussage stattfinden, wenn das Gericht dem vermeintlichen Opfer glaubt.

Glaubhaftigkeit einer Aussage

Das Bundesgericht hat bestimmte Kriterien statuiert, anhand derer die Glaubhaftigkeit einer Aussage zu beurteilen ist. Zu den wichtigsten Kriterien zählen:

  • Detailreichtum, insbesondere hinsichtlich Nebensächlichem und Ausgefallenem
  • Die Schilderung von Kommunikation, Interaktion und Komplikation
  • Sowie die Wiedergabe eigenen Erlebens und psychischer Vorgänge wie Gefühlen, Sorgen und Ängsten
  • Die Konstanz der Aussage im Kerngeschehen
  • Innere Stimmigkeit und Folgerichtigkeit

Geprüft werden müssen auch:

  • Ob Falschbelastungsmotive wie Rache oder Eifersucht bestehen
  • Die Entstehungsgeschichte der Aussage, vor allem ein möglicher Einfluss durch Dritte (Suggestion durch Familienangehörige, Therapeuten etc. und daraus entstandene Scheinerinnerungen)
  • Die Aussagekompetenz, z.B. bei kindlichen Zeugen

Das Gericht kann über die Glaubhaftigkeit einer Aussage frei entscheiden. In der Mehrheit der Fälle urteilen die Gerichte ohne Hilfe von Gutachten über die Glaubhaftigkeit. Liegen jedoch besondere Umstände vor, kann die Verteidigung erfolgreich verlangen, dass ein Glaubhaftigkeitsgutachten eingeholt wird.